Frugale InnovationArtikel vom 30. Mai 2023

© Nora von Ameln / Universität Tübingen

Weniger ist mehr! Das beschreibt am besten die ursprüngliche Idee der frugalen Innovation. Dabei fungieren gesellschaftliche und soziale Entwicklungen als Treiber dieses Innovationstyps. Dieser zeichnet sich durch vereinfachte Lösungen und optimale Anpassung an den Bedarf einer bestimmten Zielgruppe aus. Der Fokus liegt dabei auf Kunden im Einstiegssegment, die sich einfache, robuste und erschwingliche Lösungen wünschen. Hierbei werden sowohl die Märkte in Schwellenländern, als auch neue Nischen in Heimatmärkten adressiert. Ziel ist es, die technologische Komplexität auf ein Minimum an Funktionalität zu reduzieren, ohne dabei Sicherheits- und Qualitätsstandards zu vernachlässigen. Frugal bedeutet nicht billig und qualitativ minderwertig, sondern vereinfacht und gut genug für die zu erfüllende Aufgabe.

Laut einem Harvard Business Review Artikel aus dem Jahre 2014 von Navi Radjou und Jaideep Prabhu handelt es sich bei der frugalen Innovation um eine Wachstumsstrategie, die darauf abzielt, deutlich mehr geschäftlichen und sozialen Wert zu schaffen und gleichzeitig den Einsatz knapper Ressourcen wie Energie, Kapital und Zeit drastisch zu reduzieren. Lange Zeit von Unternehmen in komplexen und ressourcenbeschränkten Schwellenländern wie Indien und China praktiziert, wird die sparsame Innovation nun auch von westlichen Pionierunternehmen übernommen, um die Bedürfnisse kosten- und umweltbewusster Verbraucher in den Industrieländern zu erfüllen. Bei der frugalen Innovation geht es nicht nur darum, mit weniger mehr zu erreichen, sondern auch darum, mit weniger besser zu werden. Sinnvolle Produkte und Dienstleistungen sollen geschaffen werden, die vier Kernmerkmale integrieren: Erschwinglichkeit, Einfachheit, Qualität und Nachhaltigkeit. Die frugale bzw. sparsame Innovation stellt das traditionelle Geschäftsmodell "mehr für mehr" westlicher Unternehmen in Frage, die Milliarden von Dollar in Forschung und Entwicklung pumpen, viele natürliche Ressourcen einsetzen, um komplexe, teure Produkte zu entwickeln, und von ihren Kunden immer mehr für neue Funktionen verlangen. Doch dieser "Größer ist besser"-Ansatz für Innovationen hat aus zwei wichtigen Gründen ausgedient. Erstens wollen die amerikanischen und europäischen Verbraucher, die immer weniger Geld zur Verfügung haben, keine übertechnisierten und teuren Produkte mehr. Und zweitens werden natürliche Ressourcen wie Wasser, Mineralien und Holz immer teurer und knapper.

Um solche Lösungen für das Einstiegssegment erfolgreich zu entwickeln, ist lokales und zielgruppenspezifisches Wissen besonders wichtig (www.konstruktionspraxis.vogel.de, 2021). In den letzten Jahren führten außerdem auch gesellschaftliche Werteveränderungen der Industrienationen zu einem wachsenden Interesse an einfachen Produktlösungen. Im besten Fall sind Services und Produkte für eine wachsende Zielgruppe an alternden Menschen intuitiv und leicht bedienbar, weshalb auf eine Überladung durch selten verwendete Zusatzfeatures verzichtet werden kann. Gleichzeitig machen globale Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Covid 19-Pandemie den Ruf eines großen Teils der Bevölkerung nach schnell zugänglichen Lösungen, unabhängig von globalen Lieferketten, lauter. So kam die frugale Innovation im medizinischen Bereich bei Ventilen für Beatmungsgeräte aus dem 3D-Drucker zum Einsatz. Diese pragmatische, kostengünstige und vor Ort verfügbare Lösung aus dem Mailänder FabLab wirkte medizinischen Geräteengpässen entgegen und rettete darüber hinaus Menschenleben in der Pandemiesituation (3D Printing Business Media Ltd., 2020). Allerdings verstieß der Nachbau der Ventile gegen das Urheberrecht des Originalherstellers, der FabLab nicht unterstützen wollte. Streng genommen handelt es sich hier um Raubkopien, die auch nicht nach dem geltenden Medizinproduktegesetz zugelassen sind. Dem innovativen Ingenieur Fracassi war all dies bewusst: "Wenn die Zeit nicht da ist und Menschen um ihr Leben kämpfen, können wir nicht vor der Bürokratie kapitulieren“ (www.derstandard.de, 17.03.2020).

Das aufgeblähte westliche Innovationsmodell ist nicht nur überteuert und wenig marktgerecht, sondern hält auch nicht, was es verspricht, nämlich sozialen Fortschritt zu bringen und das Wohlergehen der Bürger zu verbessern. Im verschwenderischen US-Gesundheitssystem zum Beispiel eskalieren die Kosten immer weiter, während die Patienten immer seltener einen guten Gegenwert erhalten.

© Mrsiraphol / Freepik

Im Gegensatz dazu hat die Robert Bosch GmbH beispielsweise eine Einspritzpumpe für den indischen Autobauer TATA konzeptioniert. Diese ist kostengünstiger als bisherige Produktlösungen und erfüllt sogar die verschärften Abgaswerte nach EU-Richtlinien (FAZ.net, 2008). Bewusst gehen die Unternehmen dabei das Risiko ein, bestehende teurere Produkte aus dem eigenen Portfolio zu verdrängen. Denn der Verlust von Marktanteilen an Konkurrenten angesichts der wachsenden Nachfrage in den Schwellenländern wäre mit deutlich mehr Schaden verbunden (Vahs und Brem, 2015).

© Studio Anna Heringer

Blickt man in Richtung Architektur, entdeckt man ein weiteres nennenswertes Beispiel, nämlich das Gebäude „Anandaloy“. Mit Hilfe regionaler und schnellwachsender Rohstoffe wie Lehm und Bambus designte die deutsche Architektin Anna Heringer ein Therapiezentrum für benachteiligte Menschen in Bangladesch, für das sie im Jahr 2020 mit dem Obel-Award ausgezeichnet worden ist. Sie setzte damit das wichtige Signal, dass die Materialien vor Ort wertvolle, qualitative Baustoffe sind und durch den gezielten Einsatz von Werkzeugen innovative Bauwerke entstehen können (UBM Development AG, 2020). Es beherbergt neben dem Zentrum für Menschen mit Behinderungen auch ein kleines Atelier für fair produzierte Textilien.

Auch der batteriebetriebene Kühlschrank „ChotuKool“ ist ein innovativer Ansatz der Lebensmittelaufbewahrung in Indien, wo arme Familien unter äußerst beengten Verhältnissen leben und vorhandene Möbel täglich verschoben werden müssen, um Platz zum Schlafen zu schaffen. Die Energieversorgung des batteriebetriebenen Kühlschranks ist auch bei permanent vorkommenden Stromunterbrechungen sichergestellt. Somit kann er ohne Probleme nicht verbrauchte Lebensmittel bis zum nächsten Tag frisch halten. Des Weiteren ist er klein, leicht und äußerst mobil (www.wipo.int., 2013).

Ein weiteres Beispiel, das die vorangegangenen Beschreibungen untermauert, ist laut einem HBR-Artikel von 2012 der französische Automobilhersteller Renault. Im Jahr 2004 brachte Renault den Dacia Logan auf den Markt, eine schnörkellose Limousine zum Preis von 5.000 Euro. Ursprünglich für die Schwellenländer bestimmt, wurde das Billigauto in Westeuropa ein großer Erfolg, da dort aufgrund der Rezession preisbewusste Verbraucher nach erschwinglichen Produkten mit einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis suchten. Carlos Ghosn, CEO der Renault-Nissan-Allianz (einer strategischen Partnerschaft zwischen Renault und dem japanischen Automobilkonzern Nissan), witterte seine Chance und begann mit der Entwicklung einer völlig neuen Produktlinie von Einsteigerfahrzeugen unter der Marke Dacia. Dacia ist heute die am schnellsten wachsende Automarke in Westeuropa (auch auf dem anspruchsvollen deutschen Markt). Die Einstiegsmodelle von Renault, die zumeist unter der Marke Dacia verkauft werden, haben sich zur Cashcow des Automobilherstellers entwickelt und machten 2013 mehr als 40 % des weltweiten Umsatzes aus, gegenüber 20 % im Jahr 2008. Dank einer strikten Politik des Verzichts auf Rabatte im Einzelhandel erzielt Renault mit diesen Produkten überdurchschnittlich hohe Gewinnspannen. Darüber hinaus sind die Produkte von Dacia umweltfreundlich: 95 % der Komponenten eines jeden Dacia sind recycelbar. Mit der erfolgreichen Einführung des Logan - und in der Folge weiterer Fahrzeuge der Marke Dacia - hat Renault ein völlig neues Fahrzeugsegment in der Automobilindustrie geschaffen, das Qualität und Erschwinglichkeit miteinander verbindet. Obwohl westliche Konkurrenten wie Volkswagen die Einführung eigener Billigmarken planen, ist Renault in der Kunst und Wissenschaft der sparsamen Innovation möglicherweise um Jahre voraus. So lancierte Renault 2021 Europas günstigstes Elektroauto – den Dacia Spring – für gerade einmal 12.000 Euro. Renault arbeitet jeweils mit lokalen Arbeitskräften und Zulieferern, um die Kosten tief zu halten und Ressourcen vor Ort zu nutzen (Migros.ch, Februar 2022).

© Renault Communications

Als letztes Beispiel sollen auch die Bemühungen von Unilever nicht unerwähnt bleiben. Im Jahr 2010 stellte der nüchterne CEO Paul Polman von Unilever den Sustainable Living Plan vor, eine kühne Strategie zur Verdoppelung des Umsatzes des Unternehmens auf 80 Milliarden Euro bei gleichzeitiger Halbierung der Umweltbelastung bis 2020. Seit 2010 hat das Unternehmen die Nachhaltigkeit - und die soziale Eingliederung - tief in alle seine Kernaktivitäten integriert. So hat seine Forschungs- und Entwicklungsabteilung qualitativ hochwertige Produkte entwickelt, die sowohl erschwinglich sind - wie kleine Waschmittelpackungen mit nur fünf Waschgängen, die jetzt in Spanien verkauft werden - als auch nachhaltig, wie Seifen, die Keime schneller und besser mit weniger Wasser abtöten. Die Supply Chain Group sorgt dafür, dass die globale Wertschöpfungskette von Unilever - bestehend aus 260 Fabriken und 460 Lagern in 90 Ländern - weniger verschwendet und energieeffizienter wird. Und die Einkaufs- und Verkaufsteams bemühen sich, die Lebensbedingungen von 500.000 Kleinbauern und Händlern, mit denen das Unternehmen weltweit zusammenarbeitet, zu verbessern. Durch all diese Bemühungen baute Unilever einen sparsamen Innovationsmotor auf, der seitdem vier Milliarden Verbraucher auf sozial und ökologisch verantwortliche Weise bedienen kann (HBR, November 2014).

Es sind die aufgeklärten Führungspersönlichkeiten wie Ghosn und Polman, die in ihren Unternehmen eine Kultur der sparsamen Innovation einführen, um schneller, besser und kosteneffizienter einen größeren geschäftlichen und sozialen Wert zu schaffen. Indem sie lernen, mit weniger mehr zu erreichen, schreiben sie die Innovationsspielregeln neu - und verändern das Spiel in ihren jeweiligen Branchen sogar komplett.


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