Ach, was lieben wir doch alle den Spruch „Seid doch jetzt alle mal kreativ und schaut über den Tellerrand hinaus!“. Als ob man auf Zuruf Kreativität versprühen könnte, und wo steht denn eigentlich dieser Teller, über dessen Rand wir ständig hinaus schauen sollen?
Der Tellerrand definiert die Grenze, das Hindernis, die Hürde. Und genau diese imaginäre Grenze gilt es zu überwinden, damit wir uns nicht immer selbst im Weg stehen oder nur auf den eignen Teller starren. Es gilt, den Teller zu überwinden und den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen, damit unkonventionelle Ideen entstehen können, die häufig überraschend einfache Lösungen für bekannte Probleme zu Tage bringen. Dieser unkonventionelle Ansatz steht im Gegensatz zu einer Vielzahl an wirkungsvollen Innovationen unserer Zeit, die auf fortschrittlicher Technologie und jahrzehntelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit beruhen und er kann eben unkonventionelle Innovationen hervorbringen. Aber wie entstehen diese?
Folgen wir doch einfach mal Jesse Nieminen’s Blog aus dem Jahre 2020 von Viima, der Softwareschmiede für Innovationssoftware, und versuchen zu ergründen, was die Prinzipien hinter den unkonventionellen Innovationen sind.
Meist fängt doch alles mit einer guten Idee an. Aber auch die liegt nicht einfach griffbereit herum, sondern muss erarbeitet werden. Und was wäre da nicht besser als ein Ideenfindungs-Workshop, bei dem die Moderation verspricht: „Es gibt keine schlechten Ideen!". Leider stimmt das so aber nicht. Oder anders ausgedrückt, es gibt sogar grottenschlechte Ideen, und wie Todd Rovak in einem Interview aus dem Jahre 2020 (sifted.eu) treffend bemerkt hat, haben wir alle unseren eigenen Anteil daran. Es gibt Ideen, die ignorant sind oder einfach keinen Sinn ergeben. Es gibt Ideen, die unrealistisch oder zu ehrgeizig sind. Es gibt Ideen, die nicht ehrgeizig genug sind. Jedoch ist es gar nicht so einfach zu wissen, wann eine Idee wirklich gut und wann sie echt schlecht ist. Das ist besonders dann der Fall, wenn man große, wirklich neuartige Ideen anstrebt. Eine gute „unkonventionelle Idee" hat etwas erkannt, was andere übersehen haben, und wird daher gewöhnlich als kontrovers oder sogar irrational angesehen. Um zu einer solchen Idee zu gelangen, muss man neugierig sein und das Problem mit dem Geist eines Neulings, einem Shoshin, angehen, das heißt seinen Geist immer wieder von Bekanntem befreien, um bereit zu sein, Neues zu erkennen. Gleichzeitig sollte man jedoch auch in der Lage sein, das Problem und den Kontext, in dem es sich befindet, genau zu verstehen. Ironischerweise sind viele Ideenfindungs-Workshops so strukturiert, dass sie zeitbegrenzt meist zu oberflächlichen Problemlösungen und Gruppendenken führen. Und wenn man der Untersuchung von R. Berth aus dem Jahre 1992 (Gablers Magazin) folgt, dann entstehen die guten Ideen gerade mal zu 24% im Unternehmen, aber zu 76% außerhalb. Damit wären dann diese Arten von Workshops vielleicht doch nicht der richtige Weg zur Erleuchtung.
Der Prozess der Entwicklung innovativer Ideen ist zwar immer mit etwas Kreativität verbunden, aber es ist ebenso eine Wissenschaft wie eine Kunst, im Gegensatz zu dem, was uns viele sogenannte Kreativitätsexperten glauben machen wollen. Denn es geht nicht darum irgendwelche Ideen zu finden, sondern problem- und lösungsorientiert, fokussiert sowie zielorientiert sich der Herausforderung zu stellen.
Wenn wir uns hilfreiche Leitfäden anschauen, dann sehen wir schnell, dass diese sowohl Erkenntnisse aus der Antike als auch der Neuzeit beinhalten.
1. Denken in ersten Prinzipien
Will man das Problem von der Basis angehen, hilft ein Blick in die Antike, etwa ein Besuch bei Aristoteles, der zum „Denken in ersten Prinzipien“ angeregt hat. Laut Benjamin Tallin (morethandigital.info) geht es im Kern darum, komplexe Konzepte, Probleme oder Überzeu-gungen in ihre grundlegenden Bestandteile zu zerlegen. Anstatt sich auf Analogien, Präzedenzfälle, gängige Methoden oder konventionelle Weisheiten zu verlassen, ermutigt uns diese Methode, tief in das Wesen eines Problems einzutauchen, frei von Vorurteilen und vorgefassten Meinungen. Indem wir ein Problem in seine kleinsten Elemente zerlegen, können wir eine neue Perspektive einnehmen und das Problem von Grund auf verstehen – Element für Element. Um diese Methode für gezielte Lösungen anzuwenden, hilft es, sich vorab die folgenden Fragen zu stellen:
• Was trifft mit Bestimmtheit zu?
• Was wird allgemein für zutreffend gehalten, ist es aber nicht notwendigerweise?
• Was könnte möglich sein, wird aber derzeit aus dem einen oder anderen Grund nicht getan?
• Wurde ein ähnliches Problem in einer anderen Branche bereits gelöst und wenn ja, auf welche Weise?
Diese Vorgehensweise kann dazu führen, dass man plötzlich nicht länger das Problem mit einem simplen „das kann man nicht tun“ zur Seite schiebt, sondern nachdenklich zu einem „vielleicht könnten wir das tun, aber es würde bedeuten, dass...“ übergeht.
2. Hindernisse einbeziehen
Eines der Hauptprobleme mit dem Prinzip „Denk doch mal über den Tellerrand hinaus" ist, dass es im wirklichen Leben immer einen „Tellerrand“ im Sinne von Hindernissen gibt. Diese können sich in Form von Gräben und Wänden manifestieren oder in Gesetzen und Budgets. Jede Branche hat ihre Regeln und Vorschriften wie z.B. persönliche und unternehmerische Verhaltenskodizes und ethische Standards. Und Kunden haben nur begrenzte Mittel, um für Produkte und Dienstleistungen zu bezahlen. Solche Einschränkungen limitieren zwar die Möglichkeiten, aber die Grenzen zu kennen kann tatsächlich enorm helfen. Dafür gibt es einige wichtige Gründe, denn Einschränkungen
• helfen, das Problem besser zu verstehen,
• zwingen zur Kreativität,
• können zu einer Quelle von Wettbewerbsvorteilen werden.
Der Schlüssel liegt im Unterschied zwischen harten und weichen Einschränkungen. Für scheinbar unüberwindbare Gräben gibt es oft irgendwo eine Brücke. Und die gilt es zu finden, damit aus einer harten eine weiche Einschränkung werden kann. Gesetze sind das klassische Beispiel für harte Einschränkungen. Gesetze kann man nicht ändern, aber manchmal haben verschiedene Länder unterschiedliche Gesetze. Selbst wenn also die eigene Innovation durch ein Gesetz behindert wird, warum nicht mal nach einem Land Ausschau halten, das diese gesetzliche Hürde nicht aufgebaut hat und dann dort daran weiterarbeiten? Auch kann die Finanzierung bei einem Projekt oft ein scheinbar unüberwindbares Problem darstellen, wobei es immer möglich sein sollte, entweder mehr Budget zu organisieren oder aber neue Wege zu finden, dasselbe Problem auf eine erschwinglichere Art und Weise zu lösen. Hier kommt wieder das „Denken in ersten Prinzipien“ ins Spiel. Es hilft herauszufinden, mit welchen Zwängen man wirklich leben muss und welche man umgehen kann, um die eigene Innovation zu verwirklichen. Im Innovationswesen sind Zwänge nie nur negativ. Vielen Innovationswilligen gelingt es in der Regel trotz auferlegter Zwänge ganz gut, neue Ideen zu generieren und umzusetzen. Daher auch der Spruch „Not macht erfinderisch“! Wenn es keine oder nur sehr begrenzte Einschränkungen gibt, entscheidet man sich leicht für die offensichtliche statt für die unbequeme Idee.
Auch Brian Chesky, Mitbegründer und CEO von Airbnb, hat diese Korrelation erkannt und im April 2020 in einem Interview auf mastersofscale.com gesagt, dass „Zwänge Kreativität schaffen". Ohne diese hätte Chesky wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte der kreativen Entscheidungen getroffen, die den Grundstein für den bisherigen Erfolg von Airbnb gelegt haben. Und Kreativität wird Brian Chesky brauchen, denn Airbnb hat in vielen Städten und Ländern Wohnungskrisen und Proteste hervorgerufen (NRW Aktuelle Stunde, 2016, Onlinehaendler-news.de, 2018 und 2020), was zu neuen Regularien und Hürden unter anderem in Berlin geführt hat (businessinsider.de, 2016).
Hinzu kommt, dass es Situationen wie zum Beispiel die COVID-Krise gab, in der praktisch jeder mit den gleichen Einschränkungen konfrontiert war. In einem solchen Umfeld können Restriktionen dann sogar zu einer Quelle von Wettbewerbsvorteilen werden. Zum Beispiel profitierten Anbieter von Videokonferenzsoftware, Headsets und Notebookcomputern ganz erheblich von der Krise sowie Lieferservices von Lebensmitteln. Wenn beispielsweise ein Land eine aggressivere Umweltgesetzgebung einführt, bedeutet dies, dass auf diesem speziellen Markt wahrscheinlich eine größere Nachfrage nach neuen, umweltfreundlicheren Produkten und Dienstleistungen besteht. Das ist eine große Chance für diejenigen, die in der Lage sind, sich an die veränderte Situation anzupassen. Die Situation kann so zu einer Quelle von Wettbewerbsvorteilen gegenüber denjenigen werden, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich so schnell an die sich ändernden Umstände zu adaptieren.
Um ein Problem lösen zu können, sollte man es genau verstehen. Deswegen empfiehlt es sich, potentielle Kunden vor Ort zu beobachten, wie sie versuchen, ihr Problem zu lösen. Gerade in größeren Unternehmen wird der schnellen quantitativen Analyse und den abstrakten Zahlen zu viel Bedeutung beigemessen. Jedoch ist es gerade am Anfang die qualitative Analyse, die es ermöglicht, ein tieferes Verständnis des Problems und der potentiellen Kunden zu erlangen. Die „Theorie der zu erledigenden Aufgaben“ (aka „Jobs to be Done“) kann hier ein unterstützendes Hilfsmittel sein (HBR 2016, Christensen, Hall Dillon und Duncan), denn sie beschreibt, warum eine potenzielle Kundin bzw. Kunde ein Produkt kauft oder es bleiben lässt. Zusammen mit dem „Denken in ersten Prinzipien“ hilft dieser Ansatz, zu verstehen, welcher „Job“ wirklich erledigt werden soll, um das Problem zielgerichtet anzugehen. Wie ein altes Klischee der Wirtschaftswissenschaften schon lehrt, wollen die Menschen eigentlich keinen Bohrer, sondern ein Loch in der Wand (Howard Tullman, Inc.com, 2015).
Und die „20 Interview Regel“ von Jason Lemkin ist ein guter Ausgangspunkt, dieses Problem anzugehen. Diese Regel besagt, dass man ungefähr 20 Tiefeninterviews braucht, um ein zu lösendes Problem wirklich verstehen und eingrenzen zu können (predictable-revenue.com, 2016). Man sollte sich bei der Durchführung dieser Interviews allerdings darauf konzentrieren, die Ursachen für die Probleme der Menschen sowie ihre tieferen zugrunde liegenden Wünsche herauszufinden und nicht darauf, was an der Oberfläche klar ersichtlich ist (Merke: nicht Bohrer…sondern Loch in der Wand!).
Laut Impulse.de hat Jeff Bezos, Gründer von Amazon, das 2017 in seinem jährlichen Brief an die Aktionäre mal so beschrieben:
Astro Teller, der Chef von Google X, hat 2013 in einem Interview auf wired.com gesagt: „Es ist tatsächlich paradoxerweise oft einfacher, 10x besser zu sein als 10% besser“. Denn will man nur 10% besser sein als zuvor, dann wird unweigerlich der Ansatz gewählt, mehr vom Gleichen zu tun, halt nur mit etwas mehr Ressourcen und leicht verbesserten Prozessen. Soll das Ergebnis jedoch gleich 10x besser sein, muss man völlig anders denken und neue Wege finden, um das Problem anzugehen und dieses Ziel zu erreichen. Es geht also darum von eingefahrenen Routinen wegzukommen und bereit zu sein, neue Pfade zu ergründen.
Schaut man sich die Smartphone-Branche an, dann sieht man schnell, dass nach dem anfänglichen Hype sehr viel Ressourcen in einfache Hardware-Optimierungen investiert wurden, wie z.B. die Erhöhung der Anzahl an Megapixeln bei den eingebauten Linsen, um die Bildqualität zu verbessern.
Diesen traditionellen Ansatz gab es schon so lange, wie es Digitalkameras gibt. Erst in den letzten Jahren waren die Unternehmen nicht mehr in der Lage, mit dem gleichen Ansatz sinnvolle Verbesserungen zu erzielen, ohne bei anderen Bereichen ihres Designs Abstriche zu machen. Eine neue Herangehensweise an das Problem, bessere Fotos zu machen, war demzufolge nötig. Die entscheidenden Änderungen kamen aus zwei Bereichen: A) mehr Linsen, um räumliche Tiefe und unterschiedliche Abstände abbilden zu können, und B) Optimierungssoftware. Gerade durch Letzteres wurde die Bildqualität revolutioniert. Nun sind die besten Kameras nicht mehr diejenigen mit den meisten Megapixeln, sondern diejenigen, die die beste Software zur Verarbeitung der von der Kamera aufgenommenen Bilder verwenden. Es ist jetzt sogar möglich, Smartphone-Fotos zu machen, die viele Menschen nur schwer von professionellen Fotos unterscheiden können.
Will man seine eigenen Ideen überprüfen, ist konstruktive Kritik von außen der Schlüssel zum Erfolg. Es ist einfach, Freunde und Bekannte nach Feedback zu fragen, jedoch steht das Ergebnis dieser Umfragen eigentlich im Vorfeld schon fest: „Nun, es ist schön und dieser Teil hat mir wirklich gefallen...". Für das eigene Ego mag das ja prima sein, aber es hilft nicht wirklich dabei, das Produkt, die Dienstleistung oder die Idee zu verbessern. Freunde und Bekannte wollen nett und höflich sein und nicht kritisieren.
Um wirklich konstruktives Feedback zu erhalten, muss man also gezielt danach fragen, was den Menschen nicht gefällt oder was verbessert werden muss. Wir wissen es alle...keine Idee ist am Anfang perfekt...noch nicht einmal die eigene! Es braucht einige Arbeit und Prozessschleifen, um die Idee zu verfeinern und zu perfektionieren. Konstruktives Feedback und Beobachtungen aus der realen Welt sind dabei ein zentraler und sehr wichtiger Teil, um dies zu erreichen.
Unkonventionelle Innovationen fußen weder auf schwarzer Magie noch sind sie reine Glückssache. Sie zu generieren ist eine Fähigkeit, die erlernt werden kann. Man muss bereit sein, seine Denkweise zu öffnen, Hindernissen zu begegnen, die Wurzel des Problems zu erkennen und sich bei der Lösung immer wieder zu hinterfragen sowie konstruktive Kritik zuzulassen. Und natürlich muss man eine Menge Arbeit investieren und bescheiden und aufgeschlossen bleiben. Dabei ist es wichtig zu wissen, wann man beharrlich sein sollte, wann man eine andere Richtung einschlagen und wann man eine Idee einfach auch mal aufgeben muss. Und ruhig mal den Blick von den Erbsen auf dem Teller lösen und den Blick über den Tellerrand schweifen lassen, vielleicht taucht ja doch noch eine Karotte am Horizont auf.